
Arc #01: Enrolment
01: Prolog


Asuka Oikawa betrachtete die große Pinnwand in der Eingangshalle. Überfüllt mit dutzenden Flyern und Anhängen von Schülern, die Nachhilfe suchten oder Dinge tauschen wollten, wirkte sie wie eine große Leinwand, auf der ein Kleinkind tollwütig knallige Farben verteilt hatte, die es gerade zwischen die kleinen Finger bekam. Obwohl das Schuljahr bereits seit einigen Wochen angefangen hatte, war es für Asuka immer noch unmöglich, sich für einen Club zu entscheiden. Das Angebot der Karasuno Oberschule war vielfältig und üppig mit zahlreichen Aktivitäten, die jede Universität gern in den Bewerbungen ihrer zukünftigen Studenten sah. Doch jedes Mal, wenn Asuka sich entschied einem bestimmten Club beizutreten, weckte ein anderer ihre Aufmerksamkeit und sie spürte ihr Interesse wandern wie ein Schmetterling, der sich an keiner Blume satt essen wollte, bis er die mit dem richtigen Nektar fand.
Auch heute war keine Ausnahme. Asuka dachte allmählich, dass ihre Augen vom anstrengenden Starren ausfallen würden. Während der Mittagspause lümmelten mehrere Schüler im Gang, ein konstanter Lärm an Stimmen umfing Asuka und sie war zu ungeduldig, um sich die Werbeflyer genauer durchzulesen, bis ihr ein obszönes Orange ins Blickfeld sprang und sie widerwillig hinsah.
KARASUNO MÄDCHENMANNSCHAFT SUCHT DICH
(vorausgesetzt du hast keinen schwanz)
BOCK AUF BÄLLE SCHMETTERN?
(wir übernehmen keine haftung für deine sicherheit)
DANN KOMM IN DIE TURNHALLE 1-NORD
(da wo nicht süden ist)
AB 4 UHR WIRD ORDENTLICH TRAINIERT
(heh)
(aber wirklich, lasst euch blicken)
(wer zuerst kommt, bekommt nen bj vom captain)
Asuka konnte nicht entscheiden, was sie mehr anwiderte. Die abstoßende Farbe des Flyers oder die primitiven Worte darauf. Jeder wusste, dass die Mädchenvolleyballmannschaft von Karasuno ein hoffnungsloser Fall war — wenn dieser Flyer irgendetwas anderes zeigte, dann dass sie zusätzlich nicht einmal der Grammatik fähig waren. Die Karasuno Mädchen-Volleyballmannschaft war eine Mannschaft talentierter Verstoßener und Junkies, weil ihr Coach nur Athleten aus kaputten Haushalten rekrutierte. In der Theorie war das ein netter Gedanke, doch es bedeutete ein aus den Überresten gebrochener Seelen zusammengeflicktes Team, bestehend aus der verheerenden Kombination zum Drang der Selbstzerstörung und der Vorliebe zum Kollateralschaden. Zerbrochene Isolierte, die kaum ein Spiel lang miteinander auskamen und somit als schlechtestes Mädchenteam aller Oberschulen galten.
Asuka begriff nicht, wie sie die Erlaubnis bekommen hatten, den Club weiter zu führen und sie konnte sich nicht vorstellen, das Leute mit gesundem Geistesverstand freiwillig dieser Zirkusattraktion von Club beitraten, geschweige denn ihn ernst nahmen.
Außerdem war es Volleyball und wenn Asuka daran dachte, musste sie an ihren Bruder denken und wenn sie an ihren Bruder denken musste, spürte sie ihre Selbstbeherrschung auf hauchdünnem Seil balancieren, bereit im tiefen Nichts zu verschwinden, um brodelndem Hass Platz zu machen, der immer einen bitteren Nachgeschmack in ihrem Mund hinterließ. Da sie sich allerdings für einen Sportclub entscheiden musste (Asuka würde eher sterben, als sich für Hauswirtschaft oder Theater einzutragen, obwohl ihr viele unterstellten, wankelmütig wie eine Diva zu sein), ließ sie den Zeigefinger wahllos über die Flyer gleiten, bis er gegen den Knick einer Kante stieß. Asuka betrachtete das Blatt. Tennis war es also.
Obwohl ihre Schule etwas weiter entfernt lag, nahm Asuka den Weg auf sich, auch wenn das bedeutete, sich den Bus mit von der Arbeit überforderten Beamten und schreienden Mittelschülern teilen zu müssen. Freiheit in Form ihrer Haltestelle ließ sie immer dankbar aufatmen, sobald der Bus hinter ihr seinen Weg fortsetzte. Das Haus der Oikawas reihte sich brav zwischen die anderen Kleinfamilienhäuser der idyllischen Nachbarschaft und binnen zehn Minuten stand Asuka auf der Matte und schloss mit unruhigen Fingern die Haustür auf. Sie wünschte sich, dass dieser Prozess länger dauern würde, damit sie ihre Gedanken ordnen konnte, denn eigentlich hatte Asuka keine Ahnung von Tennis und wirklich Lust darauf auch nicht. Aber Asuka träumte gern; sie träumte von weit entfernten Planeten und funkelndem Sternenstaub auf ihren Wangen, von Supernoven und schwarzen Löchern, die ganze Galaxien verschlangen. Und sie träumte von endlosen Pfaden, auf denen sie laufen konnte, um endlich aus dem Schatten ihres älteren Bruders zu fliehen und wenn das bedeutete, von Null anzufangen, dann akzeptierte Asuka die Herausforderung. Sie war schon immer sehr schlecht darin, ihre Chancen auf den Sieg auszurechnen.
»Bin da!«, rief sie, doch die Antwort ihrer Mutter wurde verschluckt in der Küche von brutzelndem Fett und Geschirrklappern. Erst jetzt bemerkte Asuka, wie hungrig sie war und ungeduldig zog sie sich die Schuhe aus, schob sie halbwegs gerade, damit sie keinen Ärger bekam und marschierte in Richtung Küche. Ihr Fuß trat auf nachgebenden Widerstand und fast verlor Asuka das Gleichgewicht, doch sie konnte sich noch an der Kommode festklammern, bevor ihr Gesicht den Boden küsste. Wütend starrte sie runter, erblickte genau das, was sie vermutete: ein Ball rollte ihr vor die Zehen, schien sie höhnisch anzugrinsen. Asuka zog den Mund zu einer Grimasse.
»Mom!«, schrie sie laut. »Tooru hat seinen bescheuerten Volleyball wieder im Flur liegen gelassen!«
Sofort wurde es laut im oberen Stockwerk. Es polterte, dann trampelte jemand durch den Raum. Eine Tür flog mit einem lauten Knall auf, als kündigte sich der Vertreter des jüngsten Gerichts an, und dann stampfte ihr älterer Bruder Tooru Oikawa die Treppen runter. Sein Haar war das reinste Chaos, ein unbändiges Durcheinander, als wäre er gerade eben erst aus dem Bett gekrochen, obwohl er noch die Trainingssachen seiner Schule trug.
»Du bist bescheuert«, keifte er sie an statt einem »Hallo«, als er sich nach seinem Volleyball bückte und ihr den Mittelfinger zeigte.
Asuka versuchte den zuckenden Muskel in ihrem Kiefer zu ignorieren. »Steck das weg, bevor ich ihn dir breche«, zischte sie, woraufhin Tooru seinem Mittelfinger einen Kuss gab.
»Versuch es.«
Bevor Asuka aber ihre Hand ausstrecken und der Aufforderung nachgehen konnte, drehte Tooru sich bereits weg und schlenderte in die Küche, wohin Asuka ihm mit deutlich weniger Begeisterung folgte.
Haruka Oikawa, deutlich erschöpft von ihrem Tag im Büro und mit wenig Enthusiasmus für ihre streitenden Kinder, betrachtete beide mit einem ernsten, prüfenden Blick, um sich zu vergewissern, dass alle Finger noch dran waren. Sie war eine schöne Frau mit langen, hellen Locken, die ihr über die Schultern fielen und mit wachsamen, kastanienbraunen Augen, die sie an ihre Kinder weitergereicht hatte. Ohne zu finden, wonach sie suchte, widmete sie sich wieder dem Kochen.
»Wie war es in der Schule?«, erkundigte sie sich über die Schulter hinweg und obwohl Asuka diese Frage bereits erwartet hatte, knotete sich ihr Magen dennoch zusammen.

»Okay«, erwiderte sie langsam und ging zur Spüle, um sich die Hände zu waschen. »Ich habe mich endlich für einen Club entschieden.«
Haruka hob den Kopf. Hinter sich hörte Asuka spöttisches Grunzen.
»Welcher Club will denn dich schon freiwillig aufnehmen?«, gackerte Tooru. Er balancierte den Volleyball mit beleidigender Leichtigkeit auf dem Zeigefinger und Asuka schluckte den Neid so tief runter, bis er nicht mehr weh tat. Sie marschierte zu ihm rüber und rieb ihm ihre feuchten Hände ins Gesicht, woraufhin er angewidert kreischte. Wie immer.
Während Asuka höhnisch mit den Lippen Du Pussy formte und seinen schwingenden Handflächen auswich, hörte sie Haruka hinter sich fragen: »Welcher Club, Asuka?«
Asuka straffte die Schultern und weil Tooru jeder ihrer Bewegungen genauestens kannte, breitete sich ein süffisantes Grinsen auf seinem Gesicht aus, bei dem Asuka übel wurde. Er wusste genau, wie das jetzt ablaufen würde.
»Tennis«, sagte Asuka.
»Tennis«, wiederholte ihre Mutter. Es klang, als wollte sie eigentlich »Also nicht Volleyball« sagen.
Tooru stöhnte abfällig neben ihr. »Tennis. Ich glaube du hast ein neues Level an Widerwärtigkeit erreicht.«
»Du musst das wissen, mit Widerwärtigkeit kennst du dich ja bestens aus.«
»Wieso lässt du mich nicht wieder deinen Kopf in die Toilette stecken, damit du ein bisschen Respekt lernst?«
»Ich zeige dir gleich Respekt mit meiner Faust—«
Das Knallen eines Tellers ließ beide zusammenzucken. Haruka betrachtete ihre Kinder aus müden, halb geschlossenen Augen, die Hinweis genug sein sollten, dass sie keine Lust hatte, mit dem Zanken der beiden konfrontiert zu werden.
»Das reicht, alle beide«, setzte sie nach, als wäre das bedrohliche Starren nicht Nachricht genug. »Tooru, deine Schwester kann machen, was sie will und Asuka, wenn du darauf Lust hast, dann ist das so.« Sie sagte nicht, dass sie enttäuscht war oder dass sie auf Besseres gehofft hatte, aber gleichzeitig war diese Aussage so deutlich, dass Asuka nicht wusste, was ihr lieber wäre. Es zu hören oder unausgesprochen in der Luft hängen zu lassen. Mit aufeinander gepressten Lippen setzte sie sich schweigend an ihren Platz, Tooru ihr gegenüber, dessen Mund ebenfalls zu einem dünnen Strich geformt war. Haruka verließ den Raum, um ihren Ehemann aus seinem Büro zu holen. Die beiden Teenager blieben für ganze drei Sekunden still.
»Wenn du noch eine größere Enttäuschung sein willst, dann steig doch gleich aus der Schule aus«, sagte Tooru mit einem engelsgleichen Lächeln, wofür er verhaftet werden sollte. Oder verprügelt. Oder beides. Er bediente sich von seinem Teller, die Essstäbchen lagen locker zwischen seinen schlanken, langen Fingern und Asuka stellte sich vor, wie sie jeden einzelnen langsam und schmerzhaft brach.
»Die einzige Enttäuschung hier ist, dass meine Faust nicht in deinem Gesicht landet«, erwiderte sie, woraufhin Tooru leise lachte und den Blick senkte, aber nicht, weil er sich geschlagen gab, sondern weil er sie nicht ernst nahm.
Das Blut in Asukas Ohren pochte so laut, dass ihr schwindelig wurde.
»Eigentlich sollte Mom es positiv sehen. Wenn du keinem Mannschaftssport beitrittst, ersparst du ihr die gleiche Eskalation wie auf der
Kitagawa Daiichi.« Jetzt sah er sie an, der Schwere und Wirkung seiner Worte deutlich bewusst und bevor er reagieren konnte, sprang Asuka bereits über den Tisch und streckte die Arme aus, um die Finger in seine Haare zu graben, ihn zu schlagen und das dämliche Grinsen aus seinem Gesicht zu wischen, doch Tooru beschleunigte auf dem Kollisionsweg und lachte nur.